Grundlagen der psychoanalytischen Kultur- und Gesellschaftstheorie II (zweiter Durchgang)

Sommersemester 2024

Ansätze im deutschen und angelsächsischen Sprachraum

Seminarleiter: Fritz Lackinger/Franz Oberlehner/Johann Schülein

Im zweiten Teil des Schwerpunktmoduls zur psychoanalytischen Sozial- und Kulturwissenschaft geht es um die kulturtheoretischen Positionen der nach-freudianischen Psychoanalyse und Sozialphilosophie im deutsch- und englischsprachigen Raum. Vorgestellt und untersucht werden zunächst psychoanalytische Modelle zum Verständnis einfacher Gesellschaften (unter Rückgriff auf Arbeiten von Erikson und Parin & Morgenthaler) im Vergleich zur Struktur moderner Gesellschaften (Mitscherlich, Sennett, Ehrenberg). Anschließend geht es um psychoanalytisch inspirierte Verstehensweisen von autoritären Bewegungen und Bewusstseinsformen (Reich, Fromm, Adorno, Kernberg, König, Zienert-Eilts), und schließlich um Theorien zur Innengeschichte der Technik (Anders, Turkle) und der emotionalen Finanzwirtschaft (Tucket). Dabei kommen als Lernformen jeweils eine Kombination aus individuellem Literaturstudium, Gruppendiskussionen, biografischer und historischer Kontextbildung und illustrierendem Filmmaterial zum Einsatz.

Termine: Fr 17 - 20.30 Uhr - 08.03.24, 05.04.24, 26.04.24 , 17.05.24, 07.06.24, 05.07.24

Ort: Wiener Psychoanalytische Akademie, Salzgries 16/3, 1010 Wien,

Kosten: € 390/€ 300* pro Semester (*Ermäßigung für Studierende des ULG)

Online-Anmeldung

Überblicksliteratur
Busch, Hans-Joachim (2001): Subjektivität in der spätmodernen Gesellschaft. Velbrück Wissenschaft.
Haubl, Rolf / Schülein, Johann (2016): Psychoanalyse und Gesellschaftswissenschaften. Stuttgart: Kohlhammer.
Kernberg, Otto (1998): Ideologie, Konflikt und Führung. Stuttgart: Klett-Cotta 2000.
Schülein, Johann August (2015): Soziologie und Psychoanalyse. Wiesbaden: Springer 2016.
Tuckett, David (2011): Zur Psychologie der Finanzmärkte. Gießen: PSV 2013.
Turkle, Sherry (2011): Verloren unter 100 Freunden: Wie wir in der digitalen Welt seelisch verkümmern. München: Riemann Verlag 2012.
Zienert-Eilts, Karina (2017): Destruktive Gruppenprozesse: Entwicklungslinien in der Geschichte der psychoanalytischen Bewegung und Erkenntnisse für gegenwärtige gesellschaftliche Konflikt. Gießen: PSV.

Das Programm im Einzelnen

Freitag, 8. März 2024, 17.00 - 20.15 Uhr
Soziale und Psychische Realität. Zur Struktur einfacher Gesellschaften
Seminarleiter: Johann Schülein

In dieser Einheit werden hauptsächlich zwei Themen behandelt:
- Soziale und psychische Realität
- Funktionsweise einfacher Gesellschaften/Psychoanalytische Aspekte der Untersuchung einfacher Gesellschaften

Im ersten Teil geht es um die Frage, wie die generelle Beziehung zwischen sozialen und psychischen Prozessen aussieht. Die Psyche agiert nicht nur in einem sozialen Milieu, sie ist sowohl genetisch als auch situativ darauf angewiesen und wird davon bestimmt. Umgekehrt gibt es keine soziale Realität ohne Akteure, die sie realisieren. Der Austausch zwischen psychischer und sozialer Realität ist jedoch komplex und problembelastet, so dass es notwendig ist, Funktionsweise und Risiken der Interferenz zu verstehen.

Fromm, Erich (1932): Über Methode und Aufgabe einer psychoanalytischen Sozialpsychologie

Im zweiten Teil geht es um das Verhältnis von sozialer und psychischer Realität in einfachen Gesellschaften, in denen die Psyche der Akteure und die soziale Struktur strikt gekoppelt sind. Die Studien von Erikson über zwei amerikanische Indianerstämme und die von Parin et al über die „Dogon“ demonstrieren die für einfache Gesellschaften typische psychodynamische Funktionsweise und zeigen zugleich deren Varianz.

Genauer unter die Lupe genommen werden folgende Texte:

Erikson, Erik H. (1970): Kindheit und Gesellschaft. Stuttgart: Klett-Cotta 2005, v.a. Kapitel 3 und 4, S. 107-182.

Parin, Paul / Morgenthaler, Fritz / Parin Matthèy, Goldy (1963): Folgerungen und psychoanalytische Betrachtungen. In: Diess. (1963): Die Weißen denken zu viel. Psychoanalytische Untersuchungen in Westafrika. Fischer (Geist und Psyche) 1985 oder EVA 2012, S.531-616

Freitag, 5. April 2024, 17.00 - 20.15 Uhr
Moderne/dynamische Gesellschaften
Seminarleiter: Johann Schülein

Hauptthema dieser Einheit ist die Frage, wie psychische und soziale Realität in modernen bzw. dynamischen Gesellschaften aussieht. Dazu werden zunächst einige allgemeine Merkmale solcher Gesellschaften untersucht. Danach wird näher diskutiert, wie diese Merkmale mit Hilfe psychoanalytischer Sozialpsychologie untersucht werden und wie sich die „Zeitdiagnosen“ entwickelt haben.

Sennett, Richard (1997): 1. Drift: Wie persönliche Erfahrung in der modernen Arbeitswelt zerfällt. In: Ders. (1997): Der flexible Mensch. Berlin: btb-Verlag 2000, S. 15-38.

Haubl, Rolf/Schülein, Johann August (2016): Richard Sennett: Modernisierungsrisiken von Psyche und Gesellschaft. In: Diess. (2016): Psychoanalyse und Gesellschaftswissenschaften. Stuttgart: Kohlhammer, S. 175-186.

Mitscherlich, Alexander (1963): Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur Sozialpsychologie, Kap VII: Der unsichtbare Vater, München: Piper, S. 175 - 208.

Freitag, 26. April 2024, 17.00 - 20.15 Uhr
Faschismus- und Populismustheorien
Seminarleiter: Fritz Lackinger

Themen dieser Veranstaltung werden zuerst die Ansätze der ersten Theoretikergeneration der „Kritischen Theorie“ (Adorno, Horkheimer, Marcuse) zum Verständnis der Sozialpsychologie des Faschismus sein. Hierbei wird untersucht, inwieweit die Autoren auf Freuds Konzept der Massenpsychologie zurückgreifen und dieses weiterentwickeln, und wo andere Ansätze einfließen. Es werden Fragen der Vermittlung objektiver und subjektiver Faktoren in der Analyse faschistischer Bewegungen aufgeworfen und die Frage nach der Rolle und der spezifischen Persönlichkeit des „Führers“ diskutiert. Insbesondere werden diese Fragen anhand folgenden Textes reflektiert:

Adorno, Theodor (1951): Die Freud’sche Theorie und die Struktur der faschistischen Propaganda. In: Schülein, Johann & Wirth, Hans-Jürgen (Hrsg.): Analytische Sozialpsychologie. Klassische und neuere Perspektiven. Gießen: PSV, S. 253-276.

Im weiteren Verlauf wird versucht, einen groben Überblick über aktuelle psychoanalytische Untersuchungen des modernen Rechtspopulismus zu gewinnen.
Wie hat sich der Rückbezug auf die Freud’sche Analyse der Massenpsyche seit der frühen Rezeption verändert? Welche Aspekte erweisen sich als bleibende Grundlagen sozialpsychologischer Reflexion und wo gibt es Ergänzungsbedarf? Wieder wird ein Text besonders untersucht.

Zienert-Eilts, Karina (2020): Populismus – destruktiver Narzissmus – pervertierter Container. In: Diess. et al (2020): Herbert Rosenfeld und seine Bedeutung für die Psychoanalyse. Leben – Werk – Wirkung. Gießen: PSV, S. 301 – 332.

Freitag, 17. Mai 2024, 17.00 - 20.15 Uhr
Gruppentheorien in der psychoanalytischen Sozialpsychologie
Seminarleiter: Fritz Lackinger

In diesen Einheiten wird zunächst die wechselseitige Befruchtung von Psychoanalyse und Gruppentheorie (v.a. anhand der Autoren Bion, Turquet und Kreeger) daraufhin untersucht, was sich daraus für das Verständnis von sozialpsychologischen und politischen Prozessen gewinnen lässt. Als Beispieltext wird verwendet:

Turquet, Pierre (1975): Bedrohung der Identität in der großen Gruppe. In: Kreeger, Lionel (1975): Die Großgruppe. Stuttgart: Klett-Verlag 1977, S. 81-139.

In einem zweiten Schritt wird nach dem Beitrag gefragt, die die psychoanalytische Objektbeziehungstheorie unter Berücksichtigung der gruppenanalytischen und sozialpsychologfischen Traditionen zum Verständnis von gesellschaftlich bedingter Gewalt leisten kann. Hierbei wird insbesondere auf die Ansätze von Vamik Volkan und Otto Kernberg eingegangen. Konkret werden wir folgenden Text genauer diskutieren:

Kernberg, Otto (2001): Sanktionierte gesellschaftliche Gewalt: eine psychoanalytische Sichtweise. In: Ders. (2001): Affekt, Objekt und Übertragung. Gießen: PSV 2002, S. 119-161.

Freitag, 7. Juni 2024, 17.00 - 20.15 Uhr
Zur Innengeschichte der Technik
Seminarleiter: Franz Oberlehner

Was macht die technische Entwicklung mit uns Menschen, wie könnte man die Situation des menschlichen Subjektes in der Folge der technisch-industriellen Umbrüche der Moderne analysieren. Als allgemeines Prinzip kann man voraussetzen: Wir haben nicht die Wahl, ob und welche Geräte wir benutzen. Unsere Welt ist nun eine Gerätewelt, die Technik unser Schicksal. Unsere Werkzeuge, speziell weltweit vernetzte Computer, formen uns. Wie und in welchem Ausmaß letzteres vor sich geht, soll mit Hilfe einer Untersuchung von Sherry Turkle analysiert werden.

Turkle, Sherry (2011): Einführung. In: Verloren unter 100 Freunden: Wie wir in der digitalen Welt seelisch verkümmern. München: Riemann Verlag 2012, S. 24-56.

Sie schreibt von zwei Entwicklungen von „verstörender Symmetrie“, nämlich dass wir uns selbst immer mehr wie Objekte behandeln und zugleich unbelebten Objekten zunehmend menschliche Eigenschaften zu verleihen. Die totale, pausenlose Vernetzung verspricht uns nie da gewesene Kontrolle über unsere Beziehungen. Gleichzeitig bewegen wir uns mit der sich dynamisch entwickelnden sozialen Verwendung von Robotern hin zu der Vorstellung, etwas erschaffen zu haben, das sich für uns interessiert und uns gernhat.

Oberlehner, Franz (2023): Körperaugmentation und Wirklichkeitssinn. In: Virtuelle Berührung – zersplitternde Realität. Zur Psychoanalyse von Digitalisierung und Internetkultur. Psychosozialverlag 2023, S. 159-175.

Freitag, 5. Juli 2024, 17.00 - 20.15 Uhr
Theorie der emotionalen Finanzwirtschaft
Seminarleiter: Franz Oberlehner

Die klassische psychoanalytische Theorie würdigt vor allem die innige Beziehung des Geldes zum Dreck und damit zur Analerotik. Spätere Beiträge legten Ursprünge des Geldes in Menschopfer und Schuldreligion offen und analysierten seine Entwicklung vom konkreten Gegenstande zum reinen Zeichen, das unkritischen, quasireligiösen Glauben fordert. Die höchst destruktive Dynamik zeitgenössischer Finanzmärkte regte psychoanalytische Untersuchungen an, die in ihrem Begriffsinventar weit über die klassische Theorie hinausgehen.

Eine der wichtigsten davon ist Die verborgenen psychologischen Dimensionen der Finanzmärkte von David Tucket. Anhand von Interviews mit Finanzmanagern, die noch vor Ausbruch der jüngsten Krise geführt wurden, entwickelt er eine Theorie der emotionalen Finanzwirtschaft. Die Begriffe Unsicherheit, unbewusste Phantasien, (ambivalente) Objektbeziehungen, phantastische Objekte, gespaltener/integrierter Zustand, Narrativ und Gruppenempfinden bilden das Zentrum seiner Analyse, mit der er eine Antwort auf ungelöste Fragen zum Verlauf wiederkehrender verheerender Finanzblasen zu geben versucht.

Tuckett, David & Taffler, Richard (2008): "Fantastische Objekte und der Realitätssinn des Finanzmarkts: Ein psychoanalytischer Beitrag zum Verständnis der Instabilität der Wertpapiermärkte". Internationale Psychoanalyse 4(2009): 227-263.

Haubl, Rolf (2011): Geldpathologien und Überschuldung am Beispiel Kaufsucht. Ein von der Psychoanalyse vernachlässigtes Thema. In: Schülein, Johann & Wirth, Hans-Jürgen (Hrsg.): Analytische Sozialpsychologie. Klassische und neuere Perspektiven. Gießen: PSV, S. 411 – 448.