Grundlagen der psychoanalytischen Kultur- und Gesellschaftstheorie III (zweiter Durchgang)

Wintersemester 2024/2025

Ansätze im französischen Sprachraum

Seminarleiterin: Ulrike Kadi

Termine: werden rechtzeitg bekannt gegeben

Ort: Wiener Psychoanalytische Akademie, Salzgries 16/3, 1010 Wien

Kosten: € 390/€ 300* pro Semester (*Ermäßigung für Studierende des ULG)
Inhalt

Die vergangenen Jahre der Pandemie haben die Fragilität des bestehenden gesellschaftspolitischen Konsenses deutlich gezeigt. Theoretisch rückt damit die Frage nach der Rolle von Institutionen ins Zentrum. Ähnlich wie bei Michel Foucault (und doch anders als bei diesem) finden wir bei Sigmund Freud und Jacques Lacan die Vorstellung eines in der Tendenz eher repressiven Modells von Institutionen (Esposito 2021). Diese gelten vor allem als ein Beitrag zum Unbehagen, setzen sie doch mit ihren Regeln machtvolle Einschnitte, die dem Subjekt, das sie konstituieren, etwas abverlangen, was sich mit einer unvermeidlichen narzisstischen Dezentrierung (Kaës 1994) verbindet.

Mit anthropologischen Bezügen zu Marcel Mauss, Émile Durkheim und Claude Leví-Strauss hat sich die psychoanalytische Kultur- und Gesellschaftstheorie in Frankreich sowohl unter dem Einfluss von wie in Reaktion auf Jacques Lacans kreative Re-Lektüre Freudscher Schriften etabliert (Zafiropoulos 2010). Seine Theorien zur Funktion des Vaters, zum Namen-des-Vaters, vor allem aber auch zu dessen Niedergang haben vor einem halben Jahrhundert über Frankreich hinaus das soziokulturelle Klima nach den Katastrophen des Zweiten Weltkriegs mitgeprägt. Inzwischen haben einzelne strukturalpsychoanalytische Theoreme Eingang in die Feuilletons von Zeitungen der sogenannten westlichen Welt gefunden. Geschlechterpolitisch motivierte Akteur*innen haben sich mal affirmativ, mal ablehnend bezogen auf einen sich im Laufe der Jahre weiter entfaltenden Corpus von Ideen Lacans, in welchen (von vielen unbemerkt) aus dem einen Namen-des-Vaters viele Namen-des-Vaters und sogar eine Art Vater-des-Namens geworden ist. Mengentheoretisch und topologisch ist dabei einiges vorweggenommen, was heute unter den Stichworten einer post-patriarchalen und post-ödipalen Gesellschaft seine kulturtheoretischen Anwendungen findet.

Das Modul zu kulturtheoretischen Ansätzen in der französischen Psychoanalyse hat Werkstattcharakter. Es werden Grundlagen einer strukturalpsychoanalytischen Lesart der Freudschen Theorie unterrichtet, um Zugänge zu einer Diskussion zu eröffnen, die über die Psychoanalyse in Frankreich hinaus auch philosophische und soziologische Dimensionen einbezieht. Angesichts des fortschreitenden gesellschaftlichen Wandels stellen sich dabei auch für eine psychoanalytische Herangehensweise neue Fragen. Sollen wir uns vor allem als Zeug*innen eines Niedergangs väterlicher Autorität verstehen? Passt das repressive Modell von Institutionen noch zu aktuellen Formen der Sozialisierung? Wie umgehen mit der Idee eines leeren Zentrums, das eine Friedensordnung auf Basis einer geteilten sprachlichen Welt aufrechterhalten soll, wenn die gemeinsame Sprache durch einen zunehmend härteren Kampf um (nationale, ideologische, geschlechtsbezogene etc.) Identitäten gefährdet erscheint?

Solche und andere Fragen werden ausgehend von Texten einzelner Protagonist*innen gemeinsam untersucht, womit sich eine lustvolle und interessegeleitete Expedition in eine, innerhalb der Psychoanalyse manchmal weniger beachtete theoretische Landschaft verbindet. Bei Anmeldung zum Seminar erhalten die Teilnehmer*innen Zugang zur gemeinsam zu lesenden Literatur.

Vorläufiger Plan für die einzelnen Sitzungstermine

Familie
Heim, Robert (1997): Der symbolische Vater als Revenant. Die Geburt der Psychoanalyse aus dem Geiste des Vaters, in: Psyche - Zeitschrift für Psychoanalyse 51, 1023–1050.
Lacan, Jacques (1938): Die Familie, in: ders. (1986): Schriften III. Weinheim / Berlin, 39–77.

Vater
Lacan, Jacques (1957): Die väterliche Metapher, in: ders. (2006a): Das Seminar. Buch V (1957–1958).
Die Bildungen des Unbewussten. Wien, 187–207.
Lacan, Jacques (1961): Turelures Niedertracht, in: ders. (2008): Das Seminar. Buch VIII (1960–1961).
Die Übertragung. Wien, 347–366.
Hassoun, Jacques (2000): Vom Vater der psychoanalytischen Theorie (Von Freud zu Lacan), in: RISS 47/2000/I, 11–23.

Ortsbestimmungen
Ehrenberg, Alain (2011/2010): Das Unbehagen in der Gesellschaft. Frankfurt/M., 227–262.
Allouch, Jean (2022): Ist die Psychoanalyse eine geistige Übung? Eine Antwort an Michel Foucault. Wien (Ausschnitte).

Post*patriarchal
Lacan, Jacques (1986/1975): Gott und das Genießen der Frau, in: ders.: Das Seminar. Buch XX (1972–1973). Encore. Weinheim/ Berlin, 71–84.
Soler, Colette (2018): Humanisation? Psychoanalysis, Symbolisation, and the Body of the Unconscious. London, New York, 44–52, 87–103.

Post*ödipal
Mc Gowan, Todd (2022): Vom Verbot zum Genießen, in: Soiland, Tove / Marie Frühauf, Anna Hartmann (2022): Postödipale Gesellschaft, Bd. 1. Wien, 117–172.
Verhaeghe, Paul (2000): The Collapse of the Function of the Father and Its Effects on Gender Roles, in: Salecl, Renata (Hg.): Sexuation. Sic 3, 131–154.

(Weiterführende) Literatur
Allouch, Jean (2022): Ist die Psychoanalyse eine geistige Übung? Eine Antwort an Michel Foucault. Wien: turia+kant.
Benslama, Fethi (2009): Of a renunciation of the father, in: UMBR(a). A Journal of the Unconscious (2009): Islam, 25–32.
Borens, Raymond (2000): Vater und Deutung, in: RISS 47/2000/I, 71–91.
Bruno, Pierre (2012): Le Père et ses Noms. Toulouse: érès.
Ehrenberg, Alain (2011/2010): Das Unbehagen in der Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Esposito, Robert (2021): Institution und Biopolitik. Zürich, Berlin: diaphanes.
Hassoun, Jacques (2000): Vom Vater der psychoanalytischen Theorie (Von Freud zu Lacan), in: RISS 47/2000/I, 11–23.
Heim, Robert (1997): Der symbolische Vater als Revenant. Die Geburt der Psychoanalyse aus dem Geiste des Vaters, in: Psyche - Zeitschrift für Psychoanalyse 51, 1023–1050.
Kaës, René (1994): Psychic Work and Unconscious Alliances in Therapeutic Institutions, in: British Journal of Psychotherapy 10/3, 361–371.
Lacan, Jacques (1986/1938): Die Familie, in: ders. (1986): Schriften III, Weinheim, Berlin: Quadriga, 39–100.
Lacan, Jacques (1986/1975): Gott und das Genießen der Frau, in: ders.: Das Seminar. Buch XX (1972–1973). Encore. Weinheim / Berlin, 71–84.
Lacan, Jacques (2006/1998): Die väterliche Metapher, in: ders. (2006): Das Seminar. Buch V. Die Bildungen des Unbewussten (1957–1958). Wien, 187–207.
Lacan, Jacques (2008/2001): Turelures Niedertracht, in: ders. (2008): Das Seminar. Buch VIII. Die Übertragung (1960–1961). Wien: Passagen Verlag, 347–366.
Lacan, Jacques (2017) Namen-des-Vaters Wien: turia+kant.
Laplanche, Jean (1975): Hölderlin und die Suche nach dem Vater. Stuttgart-Bad Cannstadt: frommann holzboog.
Porge, Erik (1989): Les Noms du Père chez Jacques Lacan. Ponctuations et Problematiques. Toulouse: érès.
Ronell, Avital (2021): Burnout der Autorität. Frankfurt/M.: Klostermann.
Soler, Colette (2018): Humanisation? Psychoanalysis, Symbolisation, and the Body of the Unconscious. London, New York: Routledge.
Verhaeghe, Paul (2000): The Collapse of the Function of the Father and Its Effects on Gender Roles, in: Salecl, Renata (2000) (Hg.): Sexuation. Sic 3, 131–154.
Verhaeghe, Paul (2016): Autorität und Verantwortung. München: Kunstmann.
Vesting, Thomas / Stefan Korioth, Ino Augsberg (Hg.) (2022): Im Namen des Vaters. Gesetz – Geschlecht – Familie. Wien: turia+kant.
Zafiropoulos, Markos (2010): Lacan and Lévi-Strauss or the Return to Freud (1951–1957), London: Karnac.