Grundlagen der psychoanalytischen Kultur- und Gesellschaftstheorie III

Ansätze im französischen Sprachraum

Wintersemester 2024/25

Seminarleitung: DDr.in Ulrike Kadi

Termine
04.10.2024 S1 15.00 – 18.30 Uhr, Raum: S1
Foucault, Michel (1977): Ein Spiel um die Psychoanalyse, in: ders. (1978): Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, 118–175.

25.10.2024 S6 15.00 – 18.30 Uhr, Raum: S6
Irigaray, Luce (1985) Das Elend der Psychoanalyse, in: Soiland, Tove / Marie Frühauf, Anna Hartmann (Hg.) (2022): Postödipale Gesellschaft. Bd. 1. Wien: turia+kant, 123–154.

15.11.2024 S6 15.00 – 18.30 Uhr, Raum: S6
Lacan, Jacques (2006/2022): Sitzung vom 19. März 1969, in: ders. (2022): Das Seminar. Buch XVI (1968-1969). Von einem Anderen zum anderen. Wien, turia+kant, 257–276.

13.12.2024 S6 15.00 – 18.30 Uhr, Raum: S6
Laplanche, Jean (2003/2017): Gender Geschlecht Sexuales, in: ders. (2017): Sexual. Gießen: Psychosozial Verlag, 137–171.

24.01.2025 S6 15.00 – 18.30 Uhr, Raum: S6
Mitchell, Juliet (1974/2000) Introduction, in: dies. (2000): Psychoanalysis and Feminism: A Radical Reassessment of Freudian Psychoanalysis. London: Basic Books, XV-XXXVIII.
Butler, Judith (2011) Rethinking Sexual Difference and Kinship in Juliet Mitchell‘s Psychoanalysis and Feminism. In: Differences 23/2, 1–19.

14.02.2025 S6 15.00 – 19.15 Uhr, Raum: S6
Interview mit Alenka Zupancic (2018): Philosophie oder Psychoanalyse? Ja, bitte! In: Soiland, Tove / Marie Frühauf, Anna Hartmann (Hg.) (2022): Postödipale Gesellschaft. Bd. 1. Wien: turia+kant, 299–326.
Malabou, Catherine (2021): Negierte Lust. Die Klitoris denken. Zürich: diaphanes (Ausschnitt).

Abstract
Die sogenannte angewandte Psychoanalyse genoss auch schon zu Freuds Zeiten ein gewisses Ansehen. Indem Erfahrungen aus der Kur auf soziokulturelle Phänomene übertragen wurden, verwandelten sich Elemente der Kultur, der Gesellschaft oder der Politik in zu analysierende Objekte. Jean Laplanche (2011) hat auf die Verkürzung aufmerksam gemacht, die in einem solchen Zugang liegt. Dabei wird nämlich übersehen, dass die Psychoanalyse selbst eine „gewaltige kulturelle Bewegung“ ist (ebd.). Laplanche warnt deshalb vor dem Ausdruck „angewandte Psychoanalyse“. Er schreibt von einer „Psychoanalyse außerhalb der Mauern“, die nicht nur soziokulturelle Phänomene in den Blick nehmen kann, sondern ihrerseits – und das betrifft die Situation in Frankreich in besonderem Maße – auch im Austausch mit gegebenen Kulturen steht.

Die Sexualität galt Freud neben dem Unbewussten als zentraler Gegenstand der Psychoanalyse. Seine Wahl fiel nicht zufällig auf die Sexualität. Ihre prominente Rolle im Fin de Siècle ist Ergebnis einer soziokulturellen Entwickung, die historisch nachgezeichnet werden kann. Freuds Übernahmen aus dem Masturbationsdiskurs des 19. Jahrhunderts (etwa der Begriff der Kastration) wären in diesem Sinn auch als Erbschaft eines medizinischen Zugriffs auf den Körper zu lesen (Foucault 1977, Bonomi 2009). Umgekehrt verdanken politische Ansätze im zwanzigsten Jahrhundert – zum Beispiel die Frauenbewegung (Mitchell 1974) – manchen Impuls der Psychoanalyse. Das Konzept eines weiblichen Imaginären und der damit verknüpfte Differenzfeminismus entfalten sich beispielsweise als Teil einer psychoanalytischen Auseinandersetzung um den Phallozentrismus (Irigaray 1974).

Auch der Genderbegriff, der im US-amerikanischen Kontext (unter Einbeziehung französischerAnsätze) Karriere gemacht hat (Butler 1990, 2009), ist zunächst mit psychoanalytischen Forschungen eng verbunden gewesen (Stoller 1968). In der Folge ist die Tragweite dieses Begriffs zum Verständnis geschlechtlicher Entwicklung psychoanalytisch bezweifelt worden (Reiche 1997). Schärfer noch wurde unter Berufung auf Jacques Lacans Thesen zum Geschlecht von Joan Copjec (1994) eine Einbeziehung der Geschlechtergeschichte zurückgewiesen.

Seither hat sich eine ontologisch fundierte Strömung in der Diskussion herauskristallisiert, die eine politische Lesart von Lacans Spätwerk ins Zentrum rückt. Als historisch flexibel werden dabei nicht die konkreten Formen geschlechtlicher Identifizierung einzelner angesehen. Sondern im Zentrum der Spekulation steht die Verbindung zwischen dem Individuum / der Gesellschaft und dem Genießen in einer postödipalen Gesellschaft (Soiland 2022), in welcher der Andere seine Fundierungsfunktion (Lacan 2022) eingebüßt hat. Lose anknüpfend an Lacan, hat Laplanche sich der Frage von Geschlechterdifferenzen und deren kultureller Bedeutung von der Seite singulärer Entwicklungen hergenähert (Laplanche 2003). Die von ihm postulierte unstrukturierte Matrix des Sexualen erfährt inder Gendertheorie des letzten Jahrzehnts wachsenden Zuspruch, während der Lacansche Blickwinkel zunehmend in Kritik geraten ist.

Das Modul zu kulturtheoretischen Ansätzen in der französischen Psychoanalyse hat Werkstattcharakter. Psychoanalyse wird dabei vor allem als eine unabgeschlossene Form des Denkens aufgefasst. In den Diskussionen über die Bedeutungen von Sexualität und Geschlecht werden an den Berührungspunkten zwischen kulturtheoretischen und psychoanalytischen Argumentationen verschiedene Denkstile (Fleck 1935) erkennbar. Um die Tragweite der jeweiligenThesen einschätzen zu können, sind methodische Klärungen unverzichtbar. Denn psychologische Annahmen sind von ontologischen Behauptungen oder historischen Spekulationen zu unterscheiden. Solche Unterscheidungen werden, ausgehend von Texten einzelner Protagonist*innen der vergangenen wie der laufenden Diskussion, gemeinsam erarbeitet, womit sich eine hoffentlich lustvolle und auch interessegeleitete Expedition in eine, innerhalb der Psychoanalyse gegenwärtig heiß umkämpfte theoretische Landschaft verbindet.
Bei Anmeldung zum Seminar erhalten die Teilnehmer*innen Zugang zur gemeinsam zu lesenden Literatur.

Erwähnte Literatur
Bonomi, Carlo (2009): The relevance of castration and circumcision to the origins of psychoanalysis: 1. The medical context, in: The International Journal of Psychoanalysis 90, 551–580.
Butler, Judith (1990): Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity. New York: Routledge.
Butler, Judith (2009): Die Macht der Geschlechternormen. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Copjec, Joan (1994): Read my desire. Lacan against Historicists. Cambridge: MIT Press.
Fleck, Ludwik (1935): Entstehung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980.
Irigaray, Luce (1974): Speculum. De l’autre femme. Paris: Éditions de Minuit.
Laplanche, Jean (2021): Neue Grundlagen für die Psychoanalyse. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Reiche, Reimut (1997): Gender ohne Sex. Psyche, 51(9-10), 926–957.
Soiland, Tove (2022): Genießen als Faktor des Politischen – psychoanalytische Zugänge zur Gegenwart. Eine Einleitung, in: dies. / Marie Frühauf, Anna Hartmann (Hg.) (2022): Postödipale Gesellschaft. Bd. 1. Wien: turia+kant, 9-49.
Stoller, Robert (1968): Sex and Gender. New York: Science House.

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Ansätze im französischen Sprachraum
Wir freuen uns auf ihre Anmeldung!
Veranstalter:  Wiener Psychoanalytische Akademie (WPA)
Zielgruppe: Interessierte an Psychoanalytischer Sozial- und Kulturwissenschaft
Programmleitung: DDr.in Ulrike Kadi
Preis der Veranstaltung: EUR 405,00
Reduzierter Preis: EUR 310,00
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