Wege zum "Jenseits" – im Spannungsverhältnis zwischen traumatischer Neurose und Psychoneurose
Vortrag zum Jahresende an der Wiener Psychoanalytischen Akademie
von Ulrike Kistner (Pretoria, Südafrika)
Vor 100 Jahren – im Dezember 1920 – erschien Freuds Abhandlung Jenseits des Lustprinzips im Druck. Von seinen Leser*innen als schwierig, spekulativ, verwirrend, widersinnig und widersprüchlich beurteilt, hat dieser Text seit seiner Veröffentlichung immer wieder für Kontroversen, aber auch für Neuorientierungen gesorgt. So refraktär wie der Gegenstand der Untersuchung – der Todestrieb und der Wiederholungszwang – erscheint, so sperrt sich auch der Text selbst gegen eindeutige Zuordnungen. Zu- und gegensätzlich verhält er sich zu früheren Ausformulierungen der Prinzipien des psychischen Geschehens und der Trieb- und Neurosenlehre. Widersprüchlich ist der Text in sich und wird in den verschiedenen Schulen der Psychoanalyse nur bruchstückhaft rezipiert, wie denn auch der klinische und sozialpsychologische Anwendungsbereich begrenzt erscheint.
Dennoch ist der Text von klinischen Beobachtungen und sozialpsychologischen Kontexten nicht abgehoben. Wie ist es zu erklären, dass traumatische Erlebnisse unterschiedlicher Art ähnliche Symptome hervorrufen können? Wie ist die unerbittliche, unlustvolle Wiederholung des als unlustvoll Erlebten zu erklären? Diese Fragen, und das Ringen um Begriffe und Erklärungen, finden mit Freuds Abhandlung Jenseits des Lustprinzips (1920g) dauerhaft Eingang in die psychoanalytische Theoriebildung.
Mit der Untersuchung der seelischen Reaktion auf äußere Gefahren, die das Lustprinzip außer Kraft setzen, werden die traumatischen Neurosen neu verortet. Aber es bleibt nicht bei einem Gegensatz von äußeren Gefahren, die traumatische Neurosen bedingen, und inneren Erregungen, die Übertragungsneurosen bedingen. Es ergeben sich Parallelen und Überschneidungen, die Freud zu der Aussage bewegen, dass jede (Psycho-)Neurose „eine elementare traumatische Neurose“ sei. Den Wiederholungszwang des als unlustvoll Erlebten, den Freud dabei beobachtet, führt ihn zur Lebens- und Todestriebhypothese, die die Trieblehre ergänzend verändert. Aber auch innerhalb des Textes, zwischen dessen verschiedenen Fassungen, lassen sich Veränderungen und unterschiedliche Bezugsrahmen aufzeigen, die ihrerseits für später eingeschlagene Wege psychoanalytischer Schulen bahnbrechend wurden.
In der Geschichte der psychoanalytischen Theoriebildung hat die Zweitfassung die Erstfassung überlagert. Die Folgen und Folgerungen dieser Lesart wären noch auszuloten, aber ebenso erhellend ist eine Rückbesinnung auf die Ausgangspunkte, die immer wieder neue Fragen und Perspektiven aufwerfen.
Prof.in Ulrike Kistner lehrt Philosophie an der Universität von Pretoria, Südafrika.
Der Vortrag wird eingeleitet und moderiert von Dr.in Christine Diercks.
Mit Diskussionsbeiträgen von Dr.in Elisabeth Skale und Tjark Kunstreich.
Donnerstag, 17. Dezember 2020, 20.15 Uhr
Die Veranstaltung findet via Zoom statt.
Die Teilnahme ist kostenlos, Anmeldung erforderlich.
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